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Organisatorische Ableitungen: Neue Formen der Zusammenarbeit?

Bereits in den vorherigen Kapiteln wurde deutlich, dass der Faktor Mensch mit all seinen Unsicherheiten, individuellen Kompetenzleveln, Interessen usw. eine ebenso wichtige Rolle wie die technischen Anforderungen beim Thema Low-Code spielen. Deshalb soll in diesem abschließenden Kapitel gefragt werden, wie nun eine erfolgreiche Verwaltungsmodernisierung durch die Nutzung der genannten Potenziale einer Low-Code-Plattform unter Einhaltung der skizzierten Prinzipien erfolgen kann und welche Rolle Citizen Development dabei spielt.

Der Erfahrung eines:einer unserer Gesprächspartner:innen zu Folge versuchen Entscheider:innen in öffentlichen Verwaltungen viel zu oft neue Fragen mit alten Methoden zu beantworten, um sodann festzustellen, dass dies die Arbeit nur zusätzlich verkompliziert (Herr E). Hierunter fällt auch das Festhalten an Verfahrenshandlungen, welchen jegliche rechtliche Basis fehlt. Stattdessen seien neue, mutige Konzepte für eine moderne und digitale Verwaltung notwendig. Die geplante Verfahrenssynchronisierung im Land Thüringen, wodurch die teilweise übertriebenen und rechtlich nicht notwendigen Nachweisanforderungen bei den Antragsstellungen wegfallen sollen, kann als ein erster Schritt in diese Richtung gewertet werden (Herr H, Herr E). Der Weg dorthin beginnt meist mit der Evaluation und Reflexion des bisherigen Vorgehens unter Berücksichtigung aktueller technischer Möglichkeiten, hier konkret von Low-Code-Plattformen. Die Planug und Umsetzung der neuen Lösung erfolgt dann flexibel und nach agilen Methoden (siehe hierfür [1],Frau A, Frau B, Frau C, Herr I). Bevor beispielsweise Frau B eine Plattform in einer Organisation implementiert, erfolgt in der Regel eine umfangreiche Problem- und Mehrwertanalyse, so dass die Nutzung der Plattform zu einem größtmöglichen Effizienzgewinn führen kann. Diese Evaluation erfolgt dabei u.a. unter Zuhilfenahme ermittelter KPIs. Dieses Beispiel zeigt, dass Softwarehersteller und IT-Dienstleistungsunternehmen in diesem Kontext die Rolle des externen Wissens- und Kompetenzträgers, im Sinne des Project Management Institutes als Citizen Development Strategist, einnehmen können [2]. Verwaltungsmitarbeiter:innen agieren dann als Architekt:innen der gewünschten Lösungen [2]. Durch die enge Zusammenarbeit in inkrementellen Zyklen wird zudem ein sukzessives inkorporieren des Wissens in die Organisation ermöglicht. Auch der häufig in der öffentlichen Verwaltung angewendete PDCA-Zyklus des Common Assessment Frameworks ist vergleichbar mit dem inkrementellen Produktzyklus, wie er in dem Factbook der PD dargestellt wird [1].

Damit dieses Können weiterlebt und wächst und eine Organisation die eigene digitale Souveränität steigert, muss das Gelernte auch auf interne Strukturen übertragen werden. In diesem Kontext sind damit die Zusammenarbeit und die Kommunikation zwischen Fachseite und IT-Abteilung gemeint, abseits des herkömmlichen Demand-Supply-Ansatzes (Herr E). Zentral hierbei ist es, den folgenden Balanceakt zu meistern: zwischen einer Sachbearbeitung, die die Verantwortung und entsprechend die Hoheit über die Anforderungen behält, und IT-Verantwortlichen, welche ihre Kompetenzen ebenso in eine zukunftsgerichtete und technisch-konzeptionell sinnvolle Prozessgestaltung einbringen können (ebd., Herr H). Ebenjene Eigenverantwortung hinsichtlich technischer Systeme wird oft als Hürde für den Nutzen von Low-Code betrachtet (Herr M). Entsprechend sind auch hier begleitende Konzepte von Vorteil, so dass das Ziel der digitalen Souveränität nicht aufgrund von Unsicherheiten verhindert wird. Bevor der:die Sachbearbeiter:in Eigenverantwortung durch eigenständige Anwendungskonfiguration nach eigenem Prozesswissen erhält, kann diese:r im zuvor beschriebenen Co-Development die einzelnen Entwicklungsschritte dank eines nutzer:innenfreundlichen GUI verfolgen und aktiv begleiten [@BeynonRAD, 3]. Möglicherweise hat dies auch den Effekt, die eigenen Kompetenzen in Richtung Anwendungskonfiguration auszubauen und schrittweise die Rolle des Practioners (siehe Kapitel zu Citizen Development) zu übernehmen [2].

Die Stadtverwaltung von Herrn H etabliert derzeit eine zwischengeschaltete Struktur, wodurch das klassische Anforderungsmanagement beispielsweise über sog. IT-Berater:innen oder eine entsprechende IT-Steuerungsinstanz ergänzt werden soll. Durch solche Instanzen können zudem funktionierende und sinnhafte Entscheidungs- und Steuerungsstrukturen in zweierlei Hinsicht gewährleistet werden, erstens bezüglich der Entscheidungen und Aushandlung über die Gestaltung der IT-Infrastruktur durch ein extra dafür eingesetztes Gremium. Zweitens kann diese zwischengeschaltete Instanz Rollen und Berechtigungsmodelle für die digitale Umsetzung der jeweiligen Verfahren entwickeln, welche den Anforderungen der Sachbearbeitung entsprechen (Herr H; Herr P). Diese Schnittstelle kann dazu dienen tradierte Vorgänge aufzubrechen. Darüber hinaus verweist dieses Beispiel auf einen weiteren wesentlichen Faktor für eine erfolgreiche Verwaltungsmodernisierung: eine von der Leitungsebene eingeleitete Transformation. Dies erscheint noch bedeutender, betrachtet man dies vor dem Hintergrund der Erfahrung unserer Gesprächspartner:innen, dass Veränderungsversuche von "unten", also den Sachbearbeiter:innen, selten nachhaltig zu sein scheinen. Neben der erwähnten Veränderungsträgheit und Unsicherheit der Fachlichkeit gibt es auch eine Vielzahl motivierter, IT-affiner Mitarbeiter:innen, welche autonom die eigenen Arbeitsabläufe verbessern (Herr L). Oft führt dies zu einer Vielzahl unsicherer, qualitativ mangelhafter und unkontrollierter digitaler Anwendungen (Schatten-IT, Herr E, Herr H). Dieser Wille zu Modernisierung und effektiverem Arbeiten sollte durch Förderung und Führung, nämlich das Vorleben von Digitalisierungsinitiative, aufgefangen werden (Herr L, Herr K). Im Kontext von Low-Code kann ebendieser Wille zur schrittweisen Entwicklung des sogenannten Citizen Developments genutzt werden. Herr K erzählt in diesem Kontext von einem seiner Mitarbeitenden, er nennt ihn Daniel Düsentrieb. Seine explizite Aufgabe ist es, sich mit neu angeschafften Systemen auseinanderzusetzen und deren Potenziale praktisch zu erforschen und auszuprobieren. Dieser Handlungsspielraum für Experimente eröffnet langfristig neue Gestaltungsmöglichkeiten. Äquivalent dazu definiert das Project Management Institute seine erste Stufe des Citizen Development Maturity Models [2]. Entsprechend dieses Models können aus einzelnen Versuchen größere Einheiten der Anwendungsentwicklung entstehen, bis zur Institutionalisierung dieser, beispielsweise in Form von Competence Centern [2]. Betrachtet man diese Entwicklung vor dem Hintergrund des beschriebenen Fachkräftemangels in öffentlichen Verwaltungen können diese Competence Center auch als Ausgangspunkt für eine fortlaufende Ausbildung kompetenter Anwendungsentwickler:innen (Practioners) für Low-Code-Plattformen betrachtet werden [2]. Die Erfahrungen unserer Gesprächspartner:innen zeigen, dass intensive Schulungen im Umgang mit Low-Code-Plattformen zwingend notwendig sind (Herr F, Frau A, Frau C). Diese umfassen in der Regel erstens die Kompetenz im Umgang mit der Software und mit Daten, zweitens ein gewisses Prozessverständnis und drittens die konzeptionelle Fähigkeit, Prozesse in technische Anwendungen zu übersetzen (Herr F).

Die Practioners agieren fortan in einem Team, welches zudem auch die Qualitätssicherung der Anwendungen übernimmt. Eine Gesprächspartnerin erzählte in diesem Kontext von einer US-amerikanischen Behörde, welche mit steigendem Bedarf an Low-Code-Anwendungen ein eigenständiges Digital Transformation Center innerhalb der Organisation gegründet hat. Dies hat das Management der Anwendungen inne, prüft die Qualität der entwickelten Anwendungen und gibt Standards für diese vor. Im bundesdeutschen Verwaltungskontext wäre es zudem denkbar, sog. FIM-Expert:innen (nach Basis- oder Methodenexpert:innenschulung) in die Citizen Development Einheiten zu integrieren, wodurch auch die Einhaltung der Standards überprüft und gewährleistet werden kann [@fimbasis, 4] . Zu Beginn ist auch eine stärkere Beteiligung durch externe Wissensträger:innen denkbar (Frau B). Der Plattformanbieter von Frau C beispielsweise begleitet seine Kund:innen über ein Jahr hinweg bei der Implementierung der Software. Zudem gibt es Online-Weiterbildungsformate sowie die Möglichkeit sich innerhalb einer Plattform-Community auszutauschen. Dieser Community-Gedanke zeigte sich auch in einem Citizen-Development-Labor von Herrn S als ein wichtiger Motivator für die Menschen, sich auf ein neues Arbeiten mit Low-Code einzulassen (Herr S).

Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass Low-Code und Citizen Development in öffentlichen Verwaltungen mehr als die reine Einführung neuer Software bedeuten. Vielmehr erfordert dies neue Konzepte der Prozessgestaltung und des Changemanagements (Herr P, Herr E). Wie diese Konzepte aussehen, kann aufgrund des explorativen Charakters der Studie und der noch jungen Datenlage zu Low-Code in öffentlichen Verwaltungen nicht beantwortet werden.

Wie Herr H folgerichtig zusammengefasst hat, müssen konkrete Erfahrungen jedoch erst durch praktisches Ausprobieren gesammelt und in diesem Zuge austariert werden, sodass sich eine detaillierte, verallgemeinerbare Handlungsempfehlung entwickeln lässt. Oder um mit den Gedanken von Mario Trentim (2021) abzuschließen:

Öffentliche Verwaltungen müssen die Rolle, den Beruf oder die Funktion des Citizen Developers selbst definieren und nach ihren eigenen Bedürfnissen schneidern.

Quellen

[1]
PD, „Rahmenpräsentation: Hackathon Low-Code-/No-Code-Digitalisierungsplattformen“ (Mai 2022).
[2]
o.V., „Citizen Development. The Handbook für Creators and Change Makers“, 2021.
[3]
Paterno, F., „End User Development: Survey of an Emerging Field for Empowering People.“, ISRN Software Engineering 2013 (2013).
[4]
FITKO, „Fim Methodenexperten“.